Innovation Stories Zukunft natürlich

Food-Upcycling: Was wir alles essen sollten

Das Bild mit ein paar Möhren in einer Plastikkiste ist ein Symbolbild.

Junge Unternehmen haben Lebensmittelreste für sich entdeckt und entwickeln daraus innovative Ideen. Doch machen sie auch Sinn?

210 Kilo gekochter Seeteufel, 390 Kilo Seekrabben oder 3.000 Kilo Petersilienpulver: Auf der digitalen Überschussbörse des Düsseldorfer Start-ups Leroma sind über 700 Unternehmen eingeschrieben und kaufen oder verkaufen Produkte aus der Lebensmittelindustrie. Gegründet hat es 2019 Marina Billinger, die 15 Jahre für die Beschaffung von Rohstoffen für die Lebensmittelindustrie unterwegs war. „Ich hatte immer wieder Kunden, die falsch eingekauft haben, die Qualität beispielsweise stimmte nicht“, erklärt die 31-Jährige. Große Mengen von Waren mussten deshalb oft entsorgt werden. Heute versucht sie Abnehmer dafür zu finden und vernetzt Unternehmen. So findet übrig gebliebenes Sojageschnetzeltes schon mal seinen Einsatz in der Bauindustrie und mit Kürbiskernproteinen werden Insekten gefüttert. Über 200 Tonnen Lebensmittel konnte Marina Billinger bis 2023 schon retten.

Ungefähr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel enden jedes Jahr als Müll. 2020 kamen allein in Deutschland 11 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle zusammen. Diese Masse summiert sich entlang der gesamten Lebensmittelkette auf: Lebensmittelausschuss entsteht bei Ernte, bei Sortierung, bei Transport, bei Lagerung, durch falsche Bestellung, Testproduktionen oder bei der Lebensmittelherstellung und zuletzt in Restaurants, Kantinen, Supermärkten und Privathaushalten. 2021 wurden beispielsweise 12,13 Millionen Tonnen Geflügelfleisch in der EU erzeugt. Bei der Produktion fallen als Nebenströme gigantische Mengen an Knochen, Krallen, Haut, Blut sowie Federabfälle an. Viele dieser Schlachtnebenprodukte werden weiterverarbeitet wie etwa zu Tiermehl, Tierfutter oder Gelatine. Was dann noch übrig bleibt, landet auf Deponien oder in Biogasanlagen.

Zu gut für die Tonne: Nebenströme bei der Lebensmittelherstellung

“Bei der Nahrungsmittelproduktion gibt es ganz, ganz viele Nebenströme“, weiß Lisa Berger von Better Food Consulting aus Stuttgart. Gemeinsam mit ihren beiden Mitgründern entwickelte die Lebensmitteltechnologin vor drei Jahren aus einem dieser Nebenströme einen proteinhaltigen und ballaststoffreiche Cracker, der es sogar in eine bekannte Investoren-Show schaffte, den Better Cracker. Das Mehl, aus dem er gemacht ist, stammt aus der Produktion von Sonnenblumenöl, dem sogenannten Presskuchen. „Solche Nebenströme entstehen auch bei der Käseherstellung, bei der Bierherstellung oder bei der Tofuproduktion“, erklärt Berger. Während bei der Ölproduktion etwa auch die Schalen übrigbleiben, ist bei der Käseproduktion Molke ein Nebenstrom, bei der Gemüseverarbeitung bleibt Trester übrig und bei der Bierherstellung entsteht Treber. Die Nebenströme entstehen aber nicht nur bei der Lebensmittelherstellung, sondern oft außerdem noch viel früher. Beispiel Kakaofrucht. Jedes Jahr werden etwa 14 Millionen Tonnen Kakaofrucht rund um den Globus geerntet. Verwendung davon finden gerade Mal 4 Millionen Tonnen, die anderen 10 Millionen Tonnen sind Abfall. Warum? Für die Herstellung von Kakao braucht es nur die Bohnen, nicht das Fruchtfleisch und ebenso wenig die Schale. Weil es bislang günstiger war Schalen und Pulpe als Abfall zu entsorgen, blieben die Rohstoffe ungenutzt. Doch die Kakaofruchtschale besitzt zahlreiche wertvolle Inhaltsstoffe und auch das Fruchtfleisch ist essbar.

Mit der Verschwendung von Lebensmitteln werden gleichzeitig kostbare Ressourcen verschwendet: Arbeitskraft, Land, Wasser. Schon deshalb wollen die UN-Mitgliedstaaten im Rahmen der 17 Sustainable Developement Goals, SDGs, die globale Lebensmittelverschwendung bis 2030 drastisch reduziert haben; die Lebensmittelabfälle sollen sogar halbiert werden. Dazu hat sich auch Deutschland verpflichtet. Hinzu kommt: Prognosen zufolge sollen bis 2050 etwa 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Im Jahr 2020 waren es 8 Milliarden Menschen. Davon hatten 722 Millionen Menschen nicht genug zu essen. Um die Lebensmittelverschwendung drastisch zu verringern, forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit daran, Ressourcen besser zu nutzen. Mithilfe von beispielsweise künstlicher Intelligenz sollen Prozesse entlang der gesamten Produktionskette optimiert und so Verluste verringert werden. Ein anderer Ansatz nimmt die Nebenströme ins Visier. Insbesondere junge Unternehmen beschäftigen sich mit dem sogenannten Food-Upycling.

Trend Food-Upcycling

Laut des europäischen Netzwerks „eit food“, ist dieses Upcycling von Lebensmitteln ein großer Trend 2023. Und auch die Zeitschrift Forbes und Businesswire sehen darin ein Markt mit Potential. „Die meisten Nebenströme werden bereits verwendet, denn es geht ja immer auch ums Finanzielle, doch das Interesse daran nimmt zu, denn sie beinhalten wertvollen pflanzliche Proteine“, sagt auch Berger. „Es gibt wahnsinnig viele Nebenströme und sie werden auch genutzt, aber eben nicht immer im Bereich Lebensmittel, etwa weil das nicht ökonomisch wäre. Lebensmittelverschwendung aber beginnt dort, wo ein potenzielles Lebensmittel als solches nicht verwendet wird“, erklärt die Agrarwissenschaftlerin Jessica Aschemann-Witzel von der dänischen Aarhus Universität. „Der Agrarsektor ist verantwortlich für circa ein Drittel der CO2-Emissionen, da kann es einen Unterschied machen, ob ein Nebenstrom verbrannt, an Tiere verfüttert oder zum Lebensmittel verarbeitet wird“, konstatiert sie. In ihren Augen hat das Food-Upcycling großes Potential, um Lebensmittelverschwendung zu verringern. Allerdings unterscheidet sie: Obst beispielsweise, das aussortiert wird, weil es nicht ansehnlich ist und anschließend gerettet und weiterverarbeitet wird, ist zwar jetzt und hier eine gute Idee, aber langfristig nicht dazu geeignet, die eigentlichen Ursachen der Lebensmittelverschwendung zu beseitigen.   

Weniger Armut und Umweltzerstörung, mehr Food-Upcycling?

Nicht nur die Bohnen, sondern die gesamte Kakaofrucht zu nutzen und damit Nebenströme gar nicht erst entstehen zu lassen, damit beschäftigt sich das Forschungsprojekt „Cacaofruit“ vom Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie (IME). Ziel ist es, Pulpe und Fruchtschale als Grundlage für innovative Lebensmittel zu nutzen. So soll die Kakaofruchtschale als Substrat für die Kultivierung von Pilzmyzel genutzt werden, um eine protein- und ballaststoffreiche Lebensmittelzutat zu gewinnen. Damit soll aber nicht nur die Lebensmittelverschwendung verringert werden, sondern zugleich der Kreislauf an Armut und Umweltzerstörung gestoppt werden, der weiterhin einher geht mit dem Anbau der Kakaofrucht für die Schokoladenproduktion.

„Schokolade ist ein stark ressourcenintensives Produkt“, weiß auch Philipp Prechtner von Rettergut. Seit 2015 nutzt das Berliner Unternehmen ausrangierte oder überschüssige Lebensmittel und produziert daraus Suppen, Esspapier und Brotaufstriche. Neuerdings trägt auch eine Schokolade diesen Namen. „In großen Schokoladenfabriken wird mehrfach am Tag die Schokoladensorte gewechselt, doch es dauert, bis die neue Sorte in den Maschinen, die alte rausgedrückt hat. Im Ergebnis heißt das, es entsteht eine namenlose Schokoladenmischung, für die es aber keine Abnehmer gibt, denn in großen Industrien ist alles genormt und spezifiziert. Das sind hunderte Kilo, die so jeden Tag zusammenkommen“, erklärt Prechtner. Ungefähr 100.000 Tafeln der Schokolade konnte so schon unter dem Namen Rettergut an Verbraucherinnen und Verbraucher verkauft werden. „So tragen wir einen kleinen Teil dazu bei, auch über die Verpackung spielerisch auf das Thema Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen, denn vielen Leuten ist das Problem nicht bewusst“, weiß er.

Marketing mit Sinn: Das Label Upcycled Certified

Nahrungsmittelverschwendung stoppen und Nebenströme zu nutzen, hat sich auch die us-amerikanische Upcycled Food Association, UFA, zum Ziel gesetzt. Vor drei Jahren gegründet, hat die Organisation 2021 einen Zertifizierungsstandard vorgestellt und getestet. Das Label „Upcycled Certified“ kann für Rohstoffe oder Produkte beantragt werden, die mit Resten aus der Produktion hergestellt wurden, für Lebensmittel aber auch andere Produkte. Inzwischen sind 236 Produkte zertifiziert und 230 Mitglieder Teil der Organisation, auch europäische Unternehmen sollen mit ins Boot geholt werden. Mit Food-Upcycling beschäftigen sich oft Start-Ups. Sie kreieren neuartige Produkte wie Sesammilch, Kiwichips oder Protein Bars. Das ist auch in Europa nicht anders: So nutzt das dänische Unternehmen Bejond Coffee beispielsweise Kaffeesatz, um Austernpilze zu züchten und Kern Tec aus Österreich hat Nougatcremes, Pflanzendrinks und Aufstriche aus Fruchtkernen von Steinobst wie Aprikose, Pflaume und Kirsche kreiert. Ebenfalls aus Schalen sind die essbaren Löffel des jungen Heidelberger Unternehmens Spoontainable, die seit 2019 auf dem Markt sind und das Start-up rest:art nutzt Treber, der bei der Bierherstellung anfällt und kreiert daraus veganen Fleischersatz. „Ob das upgecycelte Produkt tatsächlich die Ressourcen stärker schont, kann letztlich nur mit einer Lebenszyklusanalyse festgestellt werden“, bemerkt Aschemann-Witzel. „Doch alle Aktivitäten, auch wenn sie noch nicht viel bringen, können die Aufmerksamkeit auf das Thema lenken und das ist wichtig.“

//Rettergut

//leroma

//Better Food Consulting

Das könnte Sie auch interessieren:

Cookie Consent mit Real Cookie Banner